Helfen hilft nicht immer

Es ist ein heisser Sommertag im Juli, ich bin unterwegs zu einer Imageberatung bei einer Kundin und schleppe meine Utensilien Richtung Treffpunkt am Bahnhof Bern. Ich bin früh dran und habe Zeit, meine Umgebung eingehend zu studieren. Sogleich sticht mir ein kleiner Junge mit Downsyndrom ins Auge. Er benimmt sich auffällig und massregelt zum Beispiel Leute, sobald sie auf „seinen“ Abfahrtsplan schauen. Ich bin nicht alleine, denn ein junges Paar hat ihn ebenfalls beobachtet und fragt ihn, ob er denn alleine unterwegs sei. Wir haben alle den gleichen Gedanken, nämlich den, dass er von einem Ausflugsgrüppli ausgerissen sein muss und nun alleine dort wartet. Schliesslich trägt er ein Muggenstutz-Tshirt, Rucksack, Cap und gute Turnschuhe. Das Paar meldet die Situation am SBB-Schalter, schliesslich stünde der Bub schon seit 10 Minuten dort herum. Die SBB will in einigen Minuten jemanden schicken, es habe sich vor wenigen Wochen bereits eine ähnliche Geschichte zugetragen. Ich verspreche den beiden, dass ich ein Auge auf den Bub halte, bis diese Person eintrifft, und sie gehen ihres Weges. Ich unterhalte mich ein bisschen mit ihm. Plötzlich reisst er sich von der Anschlagtafel los und springt weg, Richtung Gleise. Eine junge Frau, die das Geschehen ebenfalls beobachtet hat, nimmt sofort die Verfolgung auf und auch ich setze mich in Bewegung. Ich bin allerdings verlangsamt durch die Last meiner Unterlagen und Make-up-Koffer. Beide sind wir angetrieben vom Gedanken, dass diesem Buben etwas passieren könnte, wenn wir nicht rechtzeitig eingreifen. Bei den Gleisen angekommen, erwischen wir ihn am Ärmel und hindern ihn daran, in den wartenden Zug zu steigen. Wo er denn hinmüsse und wieso er alleine sei, fragen wir ihn. Er gibt keine Antwort, wehrt sich vehement und wird richtiggehend wütend. „Lass mich los“, schreit er. „Ich will nach Freiburg“, und wir versuchen ihn zu beruhigen und sagen zueinander, dass er doch höchstens 6 Jahre alt sei und zu klein sei, um alleine Zug zu fahren. „I bi zwöufi“, brüllt er, und mit diesen Worten entreisst er sich uns und flitzt ab in den Zug, der tatsächlich mit Freiburg angeschrieben ist. Wir schauen einander kurz ratlos an, dann springt die junge Frau hinterher, obwohl sie höchst wahrscheinlich nicht nach Freiburg muss. Und in dieser Sekunde fährt der Zug mit ihr drin auch schon los.

Ich hoffe, dass alles gut gegangen ist mit dem Buben. Zumal die "Kollegin" mit ihm reiste. Sicher hat es die Eltern eine grosse Portion Mut gekostet, ihn alleine gehen zu lassen und seine Unabhängigkeit zu fördern. Es tut mir leid, wenn wir da reingefunkt haben. 

Zu meinem Termin komme ich schliesslich leicht verspätet, verschwitzt und mit klopfendem Herzen an. Aber mit einem guten Gewissen, das Richtige getan zu haben, auch wenn es nicht optimal gelaufen ist. Dafür läuft mein Auftrag anschliessend super, und ich bin fast sicher, dass ich heute wenigstens jemandem geholfen habe.

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Beatrice Rieben - Life(Style), Confidence & Expat Coach