Machen Kleider wirklich Leute?
Vor einem Jahr hätte ich gesagt: Ja. Punkt.
Diverse Posts auf Social Media sowie Zeitungsartikel haben mich letztens ins Grübeln gebracht über das, womit ich mich in den letzten 17 Jahren mit stilart image&skin care hauptsächlich beschäftigt habe: 1. Eindruck, Business Outfit, Image, etc.
Seit der mehrheitlichen Abschaffung des Home Office haben die Kleiderfragen und was heutzutage angesagt und korrekt ist, eindeutig zugenommen. Das Thema scheint die Menschen zu beschäftigen. Deshalb teile ich heute meine Gedanken dazu mit dir.
Der erste Eindruck bildet sich innert 3 Sekunden.
Ob man es will oder nicht: man kommuniziert immer, sei es mit dem Äusseren, der Kleidung, Körperhaltung, Mimik oder Körpersprache.
Psychologen wissen, dass der erste Eindruck, den sich ein Mensch von einem macht, innerhalb von drei Sekunden entsteht. Innerhalb dieser kurzen Zeit macht sich das Gegenüber ein Bild darüber, ob man sympathisch oder unsympathisch, kompetent oder inkompetent, selbstbewusst oder schüchtern rüberkommt.
Dabei wird die Gesamterscheinung und die Ausstrahlung beurteilt. Diese verschiedenen Eindrücke werden blitzschnell zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Natürlich ist das immer eine subjektive Wahrnehmung und wird meist mit dem Bild, das man von sich selbst hat oder haben willst, nicht oder nicht vollständig übereinstimmen.
In der Geschichte der gleichnamigen Novelle von Gottfried Keller (Kleider machen Leute) nahmen die Menschen von Seldwyla an, dass der ärmliche Schneidergeselle "etwas Besseres" sein müsse angesichts seiner tadellosen Kleidung. Wegen seiner noblen Erscheinung wurde er in die "gute Gesellschaft" eingeführt und obwohl er sich darum bemühte, schaffte er es nie, diesen ersten, falschen Eindruck zu zerstreuen. Er verliebte sich in eine Adelstochter und wurde an der Hochzeit von seinem Widersacher als Hochstapler enttarnt und aus dem Dorf gejagt. Dies, obwohl er nie vorgegeben hatte, jemand anderes zu sein...
Der Mann im massgeschneiderten Anzug kann ein Idiot sein. Der im Hoodie auch.
Die Frage in einem der Posts war, ob ein CEO einen Hoodie tragen dürfe. Ich denke, hier sollten wir differenzieren zwischen CEO einer eigenen Firma oder angestellt, einer alteingesessenen oder jungen Firma, international tätig oder regional, und schliesslich ist auch die Branche ausschlaggebend sowie das Firmenkonstrukt und die Kunden, resp. Zielgruppe. Hier mal ein paar Attribute, welche wir Menschen in Business-Kleidung clichémässig eher zuschreiben würden: vertrauenswürdig, sauber, anständig, zuverlässig, pünktlich, korrekt, respektiert, erfolgreich, reich, aber vielleicht auch: langweilig, ehrgeizig, karrieregeil, konservativ, bieder, egoistisch, korrupt usw. je nachdem aus welcher Ecke die Einstufung kommt.
Jemanden im Hoodie assoziiere ich auf den ersten Blick eher mit cool, unkompliziert, offen, easy-going, aufgeschlossen, sozial, kreativ, unkonventionell, aber eventuell auch mit unzuverlässig, unpünktlich, erfolglos, ambitionslos, Lebemann/frau, etc.
Aber eben: man kann auch cool sein und trotzdem Anzug tragen. Oder bieder im Hoodie sein. Was auch immer: die Kleidung sagt wenig über einen Menschen aus.
Was ich mich gefragt habe ist: warum ausgerechnet ein Hoodie, das jugendlichste aller Kleidungsstücke? Das verstehe ich nicht. War es sinnbildlich gemeint für legere Kleidung? Warum nicht gleich die Baseballmütze? Könnte man nicht einfach ein Polo-Shirt bevorzugen oder einen feinen Kaschmir-Pulli? Meine Söhne, 21 und 19, oft in (secondhand) Hoodies gekleidet, würden sich für diesen Auftritt der älteren Generation leicht genieren. Für sie wäre es wohl eine Form von "jugendlicher Aneignung". Das hatte ich angenommen. Dann machte ich ein kleines Experiment mit den beiden und fragte sie nach ihrer Meinung dazu. I was in for a surprise!
Unabhängig voneinander fanden beide, dass sie ihr Geld - vorausgesetzt, sie hätten welches - lieber jemandem im Hoodie anvertrauen würden als jemandem im formellen Outfit. Ich fragte nach, ob sie sich denn auch ihren Vater im Büro so vorstellen könnten. Tatsächlich fanden sie auch das ok. Obwohl die zwei Jungs nicht gerade repräsentativ sind für eine ganze Generation, mache ich die Beobachtung auch sonst und stelle fest, dass ein Umdenken im Gang ist.
Nun, wie schafft man es denn, jederzeit stilsicher aufzutreten, egal wohin das Leben einen führt? Ohne sich gleich verbiegen zu müssen?
Was mir und meinen KundInnen hilft, ist unter anderem diese Frage: "wo gehe ich hin, was erwartet mich dort, und wie will ich wirken"? So kann eigentlich fast nichts schief gehen.
Es schadet nichts, sich ab und zu zu hinterfragen, ob der eigene Stil noch up to date ist und zum eigenen Lebensstil und Alter passt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Dresscode sich spätestens seit Corona noch mehr verwässert hat. Wo mein Grossvater früher noch Hut und Weste trug für einen Ausflug in die Stadt, ist der Grossvater meiner Kinder heute leger mit Cargo-Hosen unterwegs; und künftige Grossväter dürften ihre EnkelInnen dereinst mit ihren Tattoos entzücken...